Thomas Groetz (Berlin)

Joseph Beuys und die deutsche Punk-Bewegung

Der Düsseldorfer Kunstprofessor Joseph Beuys war selbst kein Punker. Dennoch unternahm auch er, wie viele seiner Künstlerkollegen in den frühen 80er Jahren, einen Ausflug in die Welt der populären Musik: 1982 veröffentlichte er die Single Sonne statt Reagan.

Die Begegnung mit Punk und mit der diesem Phänomen verbundenen Jugendkultur hingegen hinterlies einen bemerkenswerten Eindruck bei einigen von seinen Schülern. Besonders ist dies bei dem aus Gelesenkirchen stammenden Jürgen Kramer der Fall, der zunächst ab 1973, nach Ende seines Studiums bei Beuys, nicht mehr praktisch tätig war, sondern sich vor allem theoretisch mit Kunst beschäftigte. Der Kontakt mit der Punk-Musik, die 1977 von England nach Deutschland gekommen war, bewirkte bei ihm einen künstlerischen Neuanfang, der gleichzeitig mit einer Besinnung auf seinen künstlerischen Ausgangspunkt verknüpft war. Dieser Ausgangspunkt lag im Zusammenhang mit Joseph Beuys im Umgang mit existenziellen Fragestellungen. Joseph Beuys´ Kunst war elementar, verweigerte sich einer oberflächlichen Ästhetik, lehnte den herkömmlichen Kunstbegriff als zu eng und als unzureichend ab und rührte an existenziellen Grundfragen, den Fragen der Entwicklung, des Lebendigen ebenso wie dem Faktum des Todes. Diese Fragen hatten im Phänomen Punk plötzlich eine aktuelle Gestalt gefunden: in dem betont hässlichen Aussehen der Punks, in ihrer Zivilisationsmüdigkeit und Endzeitstimmung, sowie in der Ablehnung herkömmlicher Kriterien von künstlerischem Ausdruck.

Angeregt durch Punk als Katalysator und Deja-Vu, begann Jürgen Kramer ab 1978 eigene Bandprojekte unter dem Namen Das Weltende und Das Zwanzigste Jahrhundert zu initiieren und nahm auch die Malerei wieder auf. Darüber hinaus veröffentlichte er von 1978 bis 1982 die Zeitschrift Die 80er Jahre. Sie dokumentiert noch vor der Wahrnehmung durch die deutsche Musikpresse die vielfältigen Erscheinungen der internationalen Punkbewegung und lieferte der sich entwickelnden Punkszene des Ruhrgebietes und des Rheinlandes damit ihr Material. Jürgen Kramer spürte vor allem den künstlerisch kompromisslosen Phänomen und Gruppen nach. Dies hatte zur Folge, dass die sogenannten Street-Punks seine Ambitionen als zu kunstlastig ablehnten. Dennoch verdanken Düsseldorfer Gruppen wie Der Plan mit ihrem Label Ata Tak Jürgen Kramer viel, nicht nur, weil Der Plan personell aus Bandprojekten Jürgen Kramers hervorging, sondern auch durch den von ihm vermittelten Kontakt zur kalifornischen Gruppe The Residents, die für die Musik und Ästhetik von Der Plan wichtig war.

Die Aktivitäten Jürgen Kramers im Bereich der Punk-Musik vollzogen sich in der Nachbarschaft zur sogenannten Free International University (F.I.U.) in Gelsenkirchen. Johannes Stüttgen, der heute prominenteste Schüler von Joseph Beuys, war am dortigen Grillo-Gymnasium als Kunstlehrer beschäftigt. Auf dem Gelände des Schulhofes fand ab 1977 wöchentlich eine Kunst-AG statt. Diese Kunst-AG fungierte als eine Außenfiliale der Düsseldorfer Beuys-Klasse, in der Aktionen, Ausstellungen und Vorträge stattfanden, die nicht selten mit Musik zu tun hatten.

Zu einem besonderen Ereignis, das die Gedankenwelt von Joseph Beuys mit dem Phänomen Punk in Beziehung brachte, kam es am 18. Mai 1978. An diesem Tag führte Achim Weber mit anderen Mitgliedern der Kunst-AG einen Punk-Vortrag auf, der als Multimedia-Performance Beuys-Ikonographie (mit Kreuzen versehene Bandagen, Initiationshandlung, F.I.U.-Embleme) mit den Punk-Merkmalen schmerzhafte Intensität, Nihilismus und Konfusion konfrontierte.

Zu den musikinteressierten Beuys-Schülern gehört ebenfalls der aus Gelsenkirchen stammende Gottfried Tollmann. Er setzte bei künstlerischen Aktionen in der Beuys-Klasse populäre Musik ein. 1972 versuchte er bei einer Performance, Trockeneisblöcke mit Rock´n´Roll-Musik zum Schmelzen zu bringen. Der Punk-Impuls führte ihn später zur Gründung seiner Band Fred Banana Combo. In den 90er Jahren betätigte sich Tollmann als Musiker und Art Consultant für das Musik-Label Recycle Or Die. Als künstlerische Mitarbeiter engagierte er dafür unter anderem die Beuys-Schüler Katharina Sieverding, Imi Knoebel und Walter Dahn.

Walter Dahn, dessen bildende Kunst thematisch und methodisch von vielfältigsten Musikarten durchdrungen ist, gelangte ebenfalls durch die Begegnung mit Punk zu einer eigenen musikalischen Arbeit. Er veröffentlicht seit 1981 Tonträger unter Projektnamen wie Die Partei, Die Hornissen oder #9 Dream.

Insgesamt zeigen die musikalischen Projekte einiger Schüler von Joseph Beuys exemplarisch, dass Kulturgeschichte nicht nur linear in den Einzeldisziplinen Kunst und Musik abläuft, sondern ebenso als eine gegenseitige Durchdringung stattfindet. Da die wissenschaftliche Bearbeitung von Kultur jedoch weiterhin in streng voneinander getrennten Disziplinen abläuft, wird eine ernstzunehmende Interdisziplinarität wohl bis auf weiteres eine Utopie bleiben.
 

Literatur
Kramer, Jürgen (o.J.). Die 80er Jahre Nr. 1-10. Mit den Jahrbüchern ´Sans Titre´ und ´Der Rabe´. Gelsenkirchen 1978-1982 (Privatdruck).

Kramer, Jürgen (1984). Chateau Ste. Victoire. Ausstellungskatalog. Städtisches Museum Gelsenkirchen.

Dahn, Walter (1992). Können Musiker auch malen? In: Musik Express/Sounds, Nr.12 (Dez.), S. 49-53.