Kongressberichte


Crafting Sounds, Creating Meaning: Making Popular Music in the US
Experience Music Project, Seattle, WA, 11. - 14. April 2003
Iris-Christiane Stavenhagen (Frankfurt am Main)

Zwei Musiksoziologen aus Frankfurt am Main - mit Forschungen zur Fan-Star-Beziehung in der Popmusik bzw. zur Frankfurter Musikszene befasst - machten sich im April vergangenen Jahres auf den Weg, um - angelockt vom Thema „Crafting Sounds, Creating Meaning: Making Popular Music in the U.S." - die erste US-Popmusikkonferenz des Experience Music Project in Seattle/Washington zu besuchen.
Schon die - von Frank Gehry entworfene - Architektur des Experience Music Project in Form einer überdimensionalen E-Gitarre macht deutlich, dass hier nichts so ist, wie man es von einem Museum erwartet. Das Spielerische und das Pompöse, das Bunte und das Multimediale, Rock'n Roll-Glamour, High-Tech und gelegentlich klassisch-traditionelle Schlichtheit finden hier Raum. Es geht nicht nur um eine Ausstellung, nicht nur um Erinnern und Bewundern. Ein „Museum" zum Erleben, Mitmachen und Ausprobieren soll es sein, so das Konzept der MacherInnen.
Mit diesem Projekt hat Paul Allen, Mitbegründer von Mircosoft, seinen Lebenstraum verwirklicht und mit seinem Vermögen der Popmusik ein Denkmal gesetzt. Zugleich hat die Stadt Seattle einen passenden Wallfahrtsort für Jimi-Hendrix-Fans aus aller Welt gefunden. In diesem Museum erfährt man etwas über die Entstehung der Solidbody-Gitarre und der verschiedensten Musikstile, man kann einen Bühnenauftritt und eine Bandsession simulieren, die Vielfalt von Plattencovern bewundern und in einer aus Gitarren gestalteten Skulptur jede einzelne zum Klingen bringen. Was als Anschauungsort für moderne Museumspädagogik auf der Suche nach neuen Konzepten dienen könnte, beherbergt zugleich eine angenehme Konzerthalle und zahlreiche Räumlichkeiten für Workshops und Meetings aller Art.
In diesem Setting fand eine Konferenz mit 275 Teilnehmern statt. Wir waren zwischen Amerikanern und einigen Briten die einzigen Deutschen vor Ort und staunten über die Vielfalt der Berufs- und Interessengruppen, die sich auf dieser - in Deutschland nur in akademischen Kreisen propagierten - Veranstaltung einfanden: WissenschaftlerInnen und
JournalistInnen, Beschäftigte aus der Musikindustrie, MusikerInnen und Fans.

Vier Tage lang gab es geballte Wissensvermittlung nahezu Nonstop, ein randvolles Tagungsprogramm in dem Bemühen, möglichst viele Aspekte zu thematisieren und möglichst Vielen Vortragsmöglichkeiten zu bieten. Diskussionen, und waren sie noch so spannend, mussten daher meist äußerst kurz gehalten werden. Schließlich war es kaum möglich, auch noch den Abendprogrammen aus Live Performances und Oral-History-Veranstaltungen zu folgen, geschweige denn einen Ausflug in die blühende Musikszene der Stadt und ihrer Umgebung zu machen. Popmusikkultur und -tradition des Nordwestens, der Mythos und seine ironische Brechung, im Museum mit einer eigenen Abteilung bedacht, waren jedoch trotzdem ständig präsent, vom Sampler im Museumsshop bis hin zu abendlichen Konzerten und Podiumsdiskussionen.

Der Konferenz lag die Idee zugrunde, die verschiedensten Erfahrungshintergründe von Popmusik zu reflektieren und zu untersuchen, was Leute zum und beim Musikmachen bewegt bzw. welche Deutung der Musik (durch Wissenschaft und Journalismus) gegeben wird. Mit meiner eigenen, notwendigerweise subjektiven Auswahl möchte ich ein paar Einblicke in die angebotenen Themenbereiche geben:

Erörtert wurden u.a. Veränderungen der Konzeptionen von „Eigentum" und „Besitz" im Zeitalter des Internet am Beispiel der Diskussion um das Copyright (R. Garofalo), die Konsequenzen dieser Veränderungen auf die Verhandlung von Einschluss und Ausschluss im Musikmarkt (A. McCann), die Neuinterpretation dessen, was als „Authentizität" unter den veränderten Produktionsbedingungen gewertet wird (D. Sanjek) sowie die Auswirkungen des technologischen Wandels sowohl auf die Vermarktung wie auch auf die Entstehung von Musik am Beispiel des Techno und des Pop Sampling (M. Applebaum, E. Davis).

Eine Bestandsaufnahme der Beziehungen von globalem und lokalem Musikmarkt bzw. der Rolle der US-amerikanischen Popmusik im internationalen Musikmarkt fand ebenso ihren Platz im Rahmen einer Podiumsdiskussion (R. Christgau, S. Frith) wie die Debatte mit MusikerInnen der Nordwestküste (u.a. M. Arm von Mudhoney, C. Brownstein von Sleater Kinney, S. Coomes von Quasi) über die Produktionsbedingungen lokaler Musik bzw. die Regelung des Zugangs zu den Massenmedien und Vermarktungsmechanismen. Bei dieser Diskussion, sicherlich einer der spannendsten Momente der Konferenz, wurde deutlich, dass auch in einem offenen Setting durchaus Diskrepanzen aufbrechen zwischen den „Praktikern" des Musikbusiness und dem Diskussions- und Theoriebedürfnis der anwesenden AkademikerInnen.

In der Vielzahl der Referate zeigte sich insbesondere die Vielfalt der präsentierten Musikszenen: Ob es sich um Jazz (G. Giddins), Hiphop (K. Sanneh), Metal (J. Darnielle), Country (H. George-Warren) oder Reggae (J. Toynbee) handelte, ob die Identitätsbildung in Amateur-Rockbands und ihr Funktionieren bzw. ihre Verortung in der Musikindustrie (D. Weinstein) analysiert wurde oder die Präsentation von Geschlechterrollen am Beispiel der Kinks (R. Polito). In Erinnerung ist mir vor allem geblieben, mit welcher Nüchternheit diese Szenen geschildert wurden, ohne zugleich einen Hehl aus dem eigenen Fan-Status (H. George-Warren) oder der eigenen Sammelleidenschaft (S. Reynolds) zu machen, eine Mischung aus Reflexion und Empathie, der man in Europa eher mit Skepsis begegnen würde.

Hinzu kamen Features einzelner MusikerInnen und der zu ihnen gehörigen Szenen bzw. Schilderungen der Beziehung von Stars zu ihren Fans, z.B. Neill Young (W. Echard) oder Kurt Cobain (eindrucksvoll hierzu die Darstellung der Entstehung von Starmythen im Vortrag von C. Cross zum Thema „Dying at 27").

Überraschend war die Entdeckung, dass Jazzmusik auch auf einer US-Konferenz ein Nischendasein führte als altehrwürdige, zum Bildungskanon gehörende und aus staatlicher Sicht förderungswürdige Traditionsmusik: „Drei Leute auf einer Popmusikkonferenz, die über Jazz referieren - umgekehrt wäre es kaum vorstellbar" (G. Giddins).

Neben Erfahrungsberichten eines Roadies (J. Peterson) und Informationen über die Arbeitssituation von Auftragsmusikern (A. Williams) wurde diskutiert, wie in der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Autoren „Authentizität" hergestellt wird, z.B. in der Rezeption und Interpretation von Texten (T. Swiss, J. Pareles). Besonders eindrücklich fand ich die (um einen abendlichen Live-Auftritt ergänzten) Erläuterungen von Sarah Dougher über die widersprüchlichen Anforderungen, die im Wissenschafts- und Musikalltag gestellt werden: An eine Wissenschaftlerin, dass sie ihre „persönliche Stimme" um der Objektivität willen immer im Hintergrund zu halten hat; an eine Sängerin, dass in ihren Songs immer die „wahre", persönliche Emotion zum Ausdruck kommen muss.

Zum Musik-Machen gehört auch eine der „Hauptdomänen" des EMP, nämlich (neue Wege der) Musikpädagogik. Bedauerlicherweise kam dieses Thema nur in einer morgendlichen Einheit zur Sprache, in der es um die Vor- und Nachteile eines popmusikalischen Curriculums in der Schule (R. Strean), um die staatliche Förderung von populärer Musik in den 30er Jahren (J. Rodnitzky) und um den Einfluss oraler Musiktraditionen auf Popmusik (K. D. Gaunt) ging.

Das EMP entdeckte mit dem Konferenzprojekt auch seine Grenzen: In der Diskussion wurde darauf verwiesen, dass ausgerechnet MusikerInnen ein gewisses Mißtrauen gegenüber dem „Museum" haben und ihm das Image einer „Rock-Institution" zuschreiben. Weder das EMP allein noch eine solche Konferenz sind in der Lage, alle anzusprechen und einzuschließen.

Ferner wurde auf der Suche nach einer notwendigen  Schwerpunktsetzung für das Jahr 2003 deutlich, dass in erster Linie ein Diskussionsbedarf um folgende Streitpunkte geblieben ist:

Was ist amerikanische Musik"-tradition", was sind die musikalischen „Wurzeln" der (US-amerikanischen) Popmusik? Wie sind die amerikanischen Popmusiken sozial definiert, welche Unterschiede bestehen in den Definitionen zwischen MusikerInnen, AkademikerInnen, JournalistInnen und anderen am Projekt „Popmusikforschung" Beteiligten? Diese Diskussionen werden an jenen Begriff heranführen, der schon die erste EMP-Konferenz nachhaltig prägte: den der „Authentizität" und ihrer Konstruktion.

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