Sabine Beck

 

Vinko Globokar und der performative Körper

Ein Beitrag zur Performance-Forschung

 

 

1. Begriffsumrisse

 

Körper - Disziplinierung und Verbannung

In den letzten Jahrzehnten hat sich in den Diskursen der Wissenschaft und Kunst ein differenzierter Umgang mit dem Begriff „Körper“ entwickelt. Einige ausgewählte Stränge seien an dieser Stelle aufgeführt. Der französische Philosoph Michel Foucault hat deutlich gemacht, dass der Körper kein neutraler, physischer Behälter unseres Geistes ist, sondern vielmehr ein Ort der gesellschaftlich inhärenten Machtstrategien, die sich historisch und kulturell wandeln. Er demonstriert in Überwachen und Strafen (1976), wie die moderne Gesellschaft den Körper von Rekruten, Fabrikarbeitern und Schülern disziplinierte und gleichzeitig funktionalisierte. Ähnlichkeiten bei der Reglementierung des Instrumentalspiels in der Lehr- und Musikpraxis, insbesondere bei hochqualifizierten Interpreten sind nicht zu übersehen: Körper- und Fingerhaltung oder auch Atemtechnik sind in gleicher Weise normiert. Die Reglementierung beschränkt sich jedoch nicht auf die Erhöhung der Effizienz (z.B. bei der Atmung), sondern spiegelt genauso die kulturbedingten Konventionen. So war es z.B. Frauen nicht gestattet, das Cello beim Spiel zwischen die Beine zu nehmen, weil es als anstößig empfunden wurde. Bei Pierre Bourdieu ist von der „Einverleibung der kulturellen Praxisstrukturen“ (Bourdieu 1979: 545) die Rede, durch die der Mensch seine klassen-, schicht- oder geschlechtsorientierten Unterschiede gegenüber anderen markiert. Am Beispiel der Tischmanieren illustriert er detailgenau, wie das Fischessen den Eßgewohnheiten der männlichen Arbeiterklasse zuwider läuft (Bourdieu 1979: 210-11).1 Andere Beispiele für einverleibte Umgangsformen sind die Art des Lachens oder Schneuzens (Bourdieu 1979: 211). Der Körper verrät durch Haltung und Handlungen die soziokulturelle Verortung des Menschen. Mittlerweile hat sich der wissenschaftliche Diskurs um den Körper ausgeweitet bis hin zu ganzen Sammelbänden, die kulturelle, historische und klassen-differenzierte Vorstellungen von Körper zum theoretischen Ausgangspunkt nehmen (Homfeldt 1999).

Zu dem Schluss einer Pluralität der Begriffe vom Körper kommt Jan Hemming in seinem Aufsatz zum Verhältnis von Musik und Körper: Körper als Konstruktion, als kodierter Körper oder als kulturelle Performanz (Hemming 2000). Ihm zufolge führt die explizite Verbannung des Körpers aus der kritischen Theorie der Frankfurter Schule – als Reaktion auf den massenhaft idealisierten Körperkult im Nationalsozialismus – zu einer allgemeinen Verbannung des Körpers aus der Musikwissenschaft der Nachkriegszeit (Hemming 2000: 182f.). Auch Martina Löw demonstriert in ihren Betrachtungen zum Geschlechterverhältnis die einseitige Verdrängung der Körperlichkeit aus der Wissenschaft. Sie beschreibt die Verschärfung des dualistischen Geschlechter-Konzepts, die mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft einhergeht.2 In der Polarisierung Mann/Frau, Öffentlichkeit/Privatheit, Kultur/Natur sieht sie die Ursache für die Entkörperung des Mannes, der für autonome Identität, Geist und Wissen steht oder stand (je nachdem welche Haltung man zur Postmoderne einnimmt), während die Frau zum Körper par excellence wurde (Löw 1999: 65f.).

Aber nicht nur in der Musikwissenschaft wurde der Körper eliminiert, sondern auch in der Musikpraxis übernimmt der Komponist eine körperlose Rolle.3 Seit der Ausdifferenzierungen der musikalischen Praxis in Improvisation, Komposition und Interpretation in der westeuropäischen Kunstmusik, die verschieden terminiert wird,4 unterscheidet man im 20. Jahrhundert nach Spezialisten: Es gibt die, die Musik erfinden (die eigentlichen „Schöpfer“) und die, die Musik aufführen. Mit dieser Spezialisierung geht die bekannte Hierarchisierung der musikalischen Arbeitsfelder einher, die sich sowohl materiell als auch in der gesellschaftlichen Anerkennung bemerkbar macht. Diese hierarchische Arbeitsteilung ist nicht zufällig gleichzeitig eine geschlechtsspezifische, wenn man sich die auch im 21. Jahrhundert noch gültigen, empirisch nachweisbaren Verteilungsverhältnisse von männlichen Komponisten und weiblichen Interpreten vergegenwärtigt (Binas 2003: 40-51).

Schließlich und vornehmlich wird die Neue Musik, die europäische Kunstmusik des 20. Jahrhunderts, selbst entkörpert.5 Auch hier hat Adorno seine Wirkung hinterlassen, wenn er in der Philosophie der neuen Musik die rhythmusorientierte Musik Strawinskys der als vergeistigt empfundenen Zwölftonkomposition von Schönberg unterordnet. Die hochgradige Intellektualisierung, die vielleicht im totalen Serialismus einen Höhepunkt fand, ist eine Konstante der Neuen Musik in Deutschland und führte zu subjektiven Beschreibungen wie ‘kastriert’ oder ‘ohne Körper’.6

 

Performance oder Performativität?

Performance ist eine bestimmte Form künstlerischer Aufführung. Gertrud Meyer-Denkmann unterscheidet zwischen Performance allgemein als Show und Performance-Art, die künstlerische Zusammenhänge stiftet oder ein poetisches Moment innehat (Meyer-Denkmann 1990: 166f.). Diese Unterscheidung ist für die untersuchte Musik von Vinko Globokar entscheidend, der mit seinem Konzept engagierter Musik niemals dekorativ arbeitet, sondern stets einer kritischen Notwendigkeit folgt. Wenn demnach im Folgenden der Begriff „Performance“ verwendet wird, soll die zweite, die kunststiftende Wortbedeutung gemeint sein. Mit sechs Kriterien beschreibt Meyer-Denkmann die grundlegende Charakteristik dieser Performance-Kunst (Meyer-Denkmann 1990: 167f.):

(a)                    intermedialer Charakter

(b)                    kritische Funktion als Gegenwartskunst

(c)                    neue Wahrnehmungen und Erfahrungen

(d)                    Einheit von Autor und Interpret

(e)                    Direktere Rezeption

(f)                      Ausdehnung des Konzertraums

Trotz der vielen Komponenten zeichnet sich die Art-Performance durch eine Reduzierung von Personen und Ausstattung aus.7 Sie entwickelte sich in den siebziger Jahren im Anschluss an Happenings und Fluxus-Bewegung der fünfziger und sechziger Jahre. Den Ursprung sieht Meyer-Denkmann in der Ästhetik John Cages. Seine Aufführung des „Untitled Event“ von 1952, zusammen mit dem Tänzer und Choreographen Merce Cunningham, ist für sie die erste interdisziplinäre Performance (Meyer-Denkmann 1990: 169f.). In den siebziger Jahren entwickelt sich die Performance zu einer Solo-Kunst, bei der der Körper – und zwar zwangsläufig der des Künstlers – im Mittelpunkt steht: „Die Performancekünstler schrecken vor keiner Härte zurück, mit der sie ihren Körper in den Kampf werfen“ (Meyer-Denkmann 1990: 172). Der österreichische Künstler Wolfgang Flatz zum Beispiel verwendet eine autoaggressive Methode und setzt dabei seinen Körper extremen Strapazen aus. In einer Performance von 1990 hing er kopfüber als lebender Glockenklöppel zwischen zwei Stahlplatten und schlug zu den Klängen eines Wiener Walzers bis zur Bewusstlosigkeit mit dem Körper gegen die Platten (Zeilmann/Stefanowski 2001). Die französische Künstlerin Orlan wiederum modelliert den eigenen Körper und inszenierte mehrere Schönheitsoperationen medial, um aus ihrem Gesicht mit Hilfe der plastischen Chirurgie eine Zusammenstellung aus bestimmten prototypischen Idealbildern der Kunstgeschichte zu machen.
        Im folgenden wird Performativität nicht im Sinne von Leistung und Effizienz verstanden, wie es der französische Philosoph Jean-François Lyotard für die Forschung und ihre Legitimierung als ein Verhältnis von Geld, Effizienz und Wahrheit definierte (Lyotard 1986: 131), sondern ausgehend von dem britischen Sprachphilosophen John L. Austin als performativer Sprachakt, der Handlungen vollzieht und Identitäten setzt (Posselt 2003). Für Judith Butler, die mit dem Unbehagen der Geschlechter den Begriff der Performativität auf die Geschlechterforschung übertrug und in Deutschland für eine rege Debatte sorgte, konstituiert sich die Identität einer Person durch die wiederholte Stilisierung des Körpers (Butler 1991: 8).8 Im folgenden Buch, Körper von Gewicht, präzisiert sie, dass der Begriff Performativität keine Inszenierung oder Kunstform bezeichnet oder gar auch nur einen absichtsvollen Akt, sondern im Gegenteil eine sich „ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt“ (Butler 1995: 22). Ein Zirkelschluss? Performance und Performativität scheinen einander entgegen zu stehen, schließen einander gar aus. Wie Performativität zur Performance-Forschung beitragen kann, wird zunächst zurückgestellt. 

 

 

2. Vinko Globokar: Die Entdisziplinierung des Körpers

 

Der zeitgenössische Komponist Vinko Globokar greift in seinen Werken die Disziplinierung des Körpers der Instrumentalisten, insbesondere der Virtuosen im Betrieb der akademischen Kunstmusik auf, die ein ganzes Regelwerk von Praktiken internalisiert haben. Diese Spielkonventionen durchkreuzt Globokar mit seinen Kompositionen und macht sie somit zum Gegenstand einer kritischen Reflektion. Für ihn ist ein Musikinstrument kein „sakrosanktes Objekt“ (Minière 1976: 70), sondern lediglich die Verlängerung des Körpers. Ausgehend von seinen Erfahrungen als Posaunist begann er in den sechziger Jahren, die Ausdrucksmöglichkeiten für sein Instrument zu erweitern, indem er den Körper des Musikers bewusst als Feld der Erneuerung einsetzte. Hierbei spielen die Atmung und der Einsatz der Stimme eine große Rolle. Er entwickelte das Spiel beim Ein- und Ausatmen für die Posaune, erforschte die Erzeugung von Mehrklängen durch gleichzeitiges Singen und Spielen und fand ein umfassendes Repertoire an Spieltechniken, um Sprachlaute in musikalische Klänge zu transferieren.9 Vergleichbare Spielstrategien übertrug er nach und nach auf alle Instrumente.

Globokar ist als Komponist, Improvisator und Interpret in Personalunion auch am Anfang des 21. Jahrhunderts die Ausnahme der arbeitsteiligen Regelform und plädiert mit seiner Musik für eine Auflösung der hierarchisch gegliederten Spezialtätigkeiten. Ausgehend von Adorno vertritt er die bedingungslos kritische Funktion von Musik, die sich keinesfalls dem affirmativen Schönklang hingibt und sowohl das Komponieren wie Rezipieren umfasst. Globokar, der eine ganze Generation nach Adorno geboren ist, kehrt die Verbannung des Körpers aus der Musik um. Entgegen der Ästhetisierung des vollkommenen und „schönen“ Körpers im Dritten Reich,10 ist Globokars Umgang mit dem Körper von einer funktionalen Ästhetik des Hässlichen und Unvollkommenen geprägt, die vom Menschen (de facto vom Musiker) ausgeht. Ungewöhnliche und abweichende Handlungen des Körpers werden in seinen Kompositionen ernsthaft und differenziert bearbeitet.

In ?Corporel (1985) ist der Körper eines Schlagzeugers das einzige Instrument.11 Bei der Aufführung, die Teil des Soloprogramms des Komponisten ist, tritt der Musiker mit freiem Oberkörper, in Leinenhosen und barfuss auf. Nach einem ausgeklügelten mehrschichtigem System für Stimme, Kopf, Brust etc. werden verschiedene Teile des Körpers zum Klingen gebracht und mit differenzierten stimmlichen Aktivitäten kombiniert. Das Kratzen, Klopfen und Reiben von Körperpartien wird durch elektronische Verstärkung hörbar gemacht, so dass sich dem Hörer eine ungewöhnliche Klangwelt der Körperresonanzen eröffnet.

Abb. 1: Partiturausschnitt aus ?Corporel, S. 3. © Edition Peters 1985. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

 

Der erste ausgewählte Partiturausschnitt ist der Mitte des Werkes entnommen und bezeichnet in graphischer Notation das Reiben über den ganzen Körper von Fuß bis Kopf und zurück, wobei das Reiben des Kopfes durch das plötzliche Weitmachen der Kehle beim Einatmen pointiert wird. Zum Abschluss dieser kurzen Sequenz (8 Sek.) werden zwei Fußstampfer durch die lebhafte Aussprache einer Folge von Zischlauten („schrafsh“) begleitet. Der Musiker nimmt eine gekrümmte Haltung ein („courbé“) und summt in dieser Position verharrend eine Melodie. In der darunter abgebildeten 15. Sequenz reibt er regelmäßig mit Druck über Schienbein, Oberschenkel und Bauch, diesmal in Space Notation (je gestrichelte Linie 1 Sek.), um sich anschließend allmählich aufzurichten. Die szenische Wirkung erhöht sich durch einen Text, der kurz vor Schluss deutlich vernehmbar rezitiert wird:

„Neulich las ich folgende Behauptung: Die Geschichte der Menschheit besteht aus einer langen Aneinanderreihung von Synonymen für denselben Begriff. Es gilt, diese Behauptung zu widerlegen.“ (Anm. 26 der Partitur von ?Corporel)

Der Körper ist in diesem Stück, zusammen mit Stimme und Atmung, zugleich Klanggenerator und Zentrum der Klangerzeugung. Trotzdem handelt es sich nicht um bloße Körper-Klangforschung. Die provozierende Text-Rezitation bringt den ganzen Menschen, d.h. Körper und Geist ins Spiel, wie es für die durchweg engagierte Kunst von Globokar charakteristisch ist.

Ein weiteres Beispiel konzentriert sich auf die Atmung. Sein Titel Res/As/Ex/Inspirer (1973) spielt mit Variationen des französischen Verbs atmen (respirer, aspirer etc.). Es gehört in eine Reihe von Werken, in denen Globokar die körperliche Kraft des Interpreten bis zur äußersten Grenze beansprucht.12 Das Stück überträgt die kontinuierliche Klangerzeugung von Streichinstrumenten auf Blechbläser, die in Analogie zur Bogentechnik auch beim Einatmen Klang erzeugen. Globokar hat zwölf moderne Spieltechniken vorgegeben, die jeweils ein- oder ausatmend eingesetzt werden. Das ganze Stück über, etwa fünf bis zehn Minuten (die Spiellänge variiert je nach Kapazität des Musikers), spielt der Musiker ununterbrochen, wobei er zunehmend verbrauchte Luft aus dem Rohr des Blasinstrumentes einatmet. Die Auswirkungen beschreibt Globokar in einem Interview von 1989:

„Wie Sie wissen, befinden sich in einer Posaune ca. 2 Liter verbrauchte Luft. Beim Ausatmen bleibt diese Menge im Instrument. Beim Einatmen jedoch zieht man zunächst zwei Liter in den Körper hinein und dann zwei weitere in das Instrument. Das ist unheimlich anstrengend. Nach einer gewissen Zeit fängt der Spieler an zu schwitzen und es wird ihm schwarz vor Augen. Obwohl es einige Hilfsmittel gibt, kommt irgendwann der Punkt, an dem er nicht mehr weiter kann. Und eben an diesem Punkt endet das Stück. Daher ist es auch in seiner Dauer nicht fixiert. Auch innerhalb des Stückes gibt es solche Verfallsprozesse. Solange der Spieler ‚fit‘ ist, wird er ganz genau das spielen, was vorgeschrieben ist. Es klingt zunächst fast wie dodekaphone Musik. Doch bereits nach einer Minute beginnt er das Material zu deformieren, weil er physisch nicht mehr in der Lage ist, alles laut Spielanweisung auszuführen. Es ist letztendlich ein Kampf um das Leben“ (Köhler 1989: 13).

Das Verb expirer bedeutet zu deutsch auch „sterben“ oder „das Leben aushauchen“.

Mit der Überanstrengung der körperlichen Kräfte bezieht Globokar gleichzeitig Stellung zum Wettbewerbsgedanken der Virtuosität, wie er im 20. Jahrhundert für die Avantgarde durch den Innovationsdruck auf die Spitze getrieben wurde und im Kulturbetrieb als „Hochleistungssport“ oder als vermarktbarer „Zirkus“ vorkommt (ebd.). Die Inszenierung des (über-)strapazierten Körpers ist auch in anderen musikalischen Genres zu finden, die ebenfalls den Körper als wichtigen Bestandteil der Inszenierung betrachten, z.B. Rockmusik oder Techno.

Durch den komponierten Einbezug der Einatmung, sowie der deutlichen Atemgeräusche, integriert Globokar physische Grundbedingungen des instrumentalen Spiels, die die traditionelle Instrumentalpraxis aus der eigentlichen Musik zu eliminieren trachtet, da sie die Ästhetik des „schönen Klangs“ beeinträchtigen und als Neben- oder Störgeräusche gelten. Globokar aber setzt genau bei diesen Störeffekten des undisziplinierten Körpers an, um musikalische Spieltechniken weiter zu entwickeln. Zugleich dehnt er das Spiel auf den kompletten Körper aus.

Dies beinhaltet immer auch den Einsatz der Stimme wie schon in ?Corporel, so z.B. auch in Voix Instrumentalisée (1973) für Bassklarinette oder in Cri des Alpes (1986) für Alphorn. In beiden Stücken verlängern die Rohre der Instrumente die Stimme und modulieren den Klang aus dem Körper der Musiker. Im Klarinettenstück Dédoublement (1975) wird der Körper mobil und ähnlich wie in ?Corporel in verschiedene Körperschichten geteilt. Der Klarinettist muss in kreisförmigen Bewegungen zwischen zwei Pauken gleichzeitig mit dem Fuß das Pedal der einen Pauke betätigen (auf der anderen liegen Münzen), auf die Stellung des Schalltrichters zum Paukenfell achten und Klänge bzw. perkussive Klappenschläge auf dem Instrument erzeugen. Diese Zerteilung des Körpers in Schichten wird noch deutlicher in Dissociation (1973). Es spielen zwei Schlagzeuger bis zu je vier Rhythmen mit Händen und Füssen.

Andere Stücke setzen den Körper in Bewegung: In Discours VIII (1989) für Holzblasquintett spielen die Musiker jeweils auf einem Schreibtischstuhl sitzend und drehen sich beim Spiel, so dass eine rotierende Klangquelle entsteht. In Introspection d’un tubiste (1983) für Tuba führen ungewöhnliche Körperhaltungen zu neuen Ausdrucksmitteln. In der zweiten Hälfte der Solokomposition wird dem Interpreten die Aufgabe gestellt, im Einklang mit einem vorbereiteten Tonband zu spielen und dabei folgende Spielhaltungen einzunehmen:

Abb. 2: Ausschnitt aus den Anmerkungen zur Partitur von Introspection d’un tubiste. © Ricordi 1983. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

 

Die verschiedenen Anweisungen zur Spielhaltung beinhalten das Spielen im Knien, Sitzen oder vornübergebeugt im Stehen. Bei der achten Spielposition muss der Musiker auf dem Rücken liegen und das Mundstück mit einer Turnübung („Brücke“) auf die Ellenbogen gestützt erreichen.

Ein letztes Beispiel zeigt, wie ein Flügel mit einem ganzen Körper präpariert wird. In Vendre le Vent (1972) für Kammerensemble nimmt der Pianist im Flügel sitzend bzw. liegend verschiedene Positionen ein, während der Schlagzeuger über die Tastatur den vom Körper des Pianisten abgedämpften Klang spielt.

Zu beachten ist, dass Globokar die Entdisziplinierung des Körpers keineswegs durch die Aufhebung jeglicher Disziplin erreicht, sondern vielmehr eigene, teils utopische Formen der Körperdisziplin entwickelt und diese gegen die etablierten setzt.

 

 

3. Der performative Körper

 

?Corporel und die anderen kurz dargestellten Werke sind keine Musikstücke, die man angemessen aufnehmen oder filmisch rezipieren kann. Es sind vielmehr Performances wie im definierten Sinne, die ihre Spannung im Moment des Aufführens kreieren. Die Werke Res/As/Ex/Inspirer, Cri des Alpes und ?Corporel verbindet Globokar mit weiteren zu einem Konzertprogramm, das er unter dem Titel Mein Körper ist eine Posaune geworden seit Mitte der achtziger Jahre aufführt und zu einem Gesamtkonzept fügt.13 Selbst in scheinbar spektakulären Stücken wie ?Corporel, Cri des Alpes oder Vendre le Vent ergeben sich die szenischen Handlungen aus der Logik der Komposition. In ihnen rückt Globokar den performativen Charakter des Musikmachens, im Sinne der alltäglichen, sich „ständig wiederholende[n] und zitierende[n] Praxis“ (Butler 1995: 22), die kulturell, historisch und hierarchisch gebunden ist, in den Mittelpunkt der Wahrnehmung. Seine Werke übertreiben habituelle Formen der Disziplinierung oder ersetzen sie durch neue. Sie thematisieren den Körper in vielen Formen: als Instrument, beschädigt, (über-)strapaziert, als Verlängerung des Instruments und kritisieren die leistungs­orientierte Virtuosität spieltechnischer Fertigkeiten.

In dieser Herangehensweise gleichen sich Globokar und Butler: Er geht von den materiellen Konditionen des Musikmachens aus, deckt körperliche Reglementierung und einverleibte Prozesse auf. Sie geht bei der Geschlechtsidentität von der Materie des Körpers aus, die „nicht zu trennen sein wird von den regulierenden Normen, die ihre Materialisierung beherrschen“ (Butler 1995: 22).

 

 

Anmerkungen

 

1 Fisch wird zurückhaltend, in kleinen Happen, leicht kauend im vorderen Mundraum gegessen. Demgegenüber ist eine zweite Runde beim Apéritif für die männliche Arbeiterklasse Pflicht (Bourdieu 1979: 211).

2 Löw bezieht sich wiederum auf eine Schrift von Claudia Honegger (Honegger 1991).

3 Eine Folge des spirituellen Genie-Konzepts der Romantik.

4 Seedorf stellt einen einsetzenden Wandel seit Ende des 18. Jahrhunderts fest, dennoch verbanden Klaviervirtuosen wie Franz Liszt oder Frédérique Chopin die drei Felder musikalischer Praxis in einer Person (Seedorf 1996: Sp. 572-578). Als Indikator kann auch die Entwicklung Mitte des 19. Jahrhunderts gesehen werden, als zahlreiche Schulen für „höhere Töchter“ entstanden, die zwar in Gesang und Klavierspiel unterrichtet wurden, deren Ausbildung aber auf reine Interpretation beschränkt blieb (Rieger 1990: S. 21-28).

5 Der Begriff Neue Musik wird in Anlehnung an Carl Dahlhaus als Synonym für avancierte, rückhaltlose Musik benutzt, die mehr an eine Idee und Institution gebunden ist, als an musikalisches Material oder eine Kompositionstechnik (Vorwort zu Stuckenschmidt 1981: VIII).

6 Vgl. Tibbe 1995. Dagegen ist die körperliche Sinnlichkeit der Musik von Henri Górecki oder Arvo Pärt zu setzen, deren breiter Erfolg dann auch einleuchtend erscheinen mag.

7 So z.B. Laurie Anderson mit der Performance Duets on Ice, bei der sie auf Schlittschuhen in einem Eisblock Geige spielt, bis das Eis zerschmilzt oder sie das Gleichgewicht verliert; vgl. Foto einer Aufführung in Genua von 1975 in www.cc.gatech.edu/~jimmyd/laurie-anderson/pictures/duets-on-ice.jpg.

8 Für die Auseinandersetzungen in Deutschland vgl. Wobbe/Lindemann 1994 sowie Institut für Sozialforschung 1994.

9 Neben dem Einsatz gesungener Vokale durch das Instrument werden verschiedene Dämpfer und Artikulationsweisen verwendet; vgl. Globokar 1973.

10 Wie sie Leni Riefenstahl nach antiken Vorbildern für die nationalsozialistische Propaganda in Filmen und Fotografien inszenierte.

11 Die Kopie der Handschrift des Komponisten ist mit Paris 1985 signiert. Ein Werkverzeichnis befindet sich in Globokar 1994.

12 Andere Werke sind Atemstudie (1972) für Oboe, Ausstrahlungen (1971) für einen Solisten u. 20 Musiker, Dédoublement (1975) für Klarinette oder Correspondences (1969) für vier Solisten.

13 Seiner Ästhetik folgend müsste es vielmehr Meine Posaune ist mein Körper geworden heißen.

 

 

Literatur

 

Adorno, Theodor W. (1991). Philosphie der neuen Musik. Frankfurt: Suhrkamp.

Binas, Susanne (2003). Erfolgreiche Künstlerinnen. Arbeiten zwischen Eigensinn und Kulturbetrieb. Essen: Klartext.

Butler, Judith (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt: Suhrkamp.

Dies. (1995). Körper von Gewicht. Gender Studies. Frankfurt: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre (1979). La distinction. Critique sociale du jugement. Paris: Editions de miniuit.

Foucault, Michel (1976). Überwachen und Strafen. Frankfurt: Suhrkamp.

Globokar, Vinko (1973). „Entwicklungsmöglichkeiten der Blechblasinstrumente.“ [1967] In: Brass Bulletin , 5/6, S. 15-33.

Globokar, Vinko (1994). Einatmen « Ausatmen. Hrsg. von Ekkehard Jost und Werner Klüppelholz. Hofheim: Wolke.

Hemming, Jan (2000). „Musik und Körper. Performative Problemlösungsstrategien.“ In: Frauen- und Männerbilder in der Musik.Festschrift für Eva Rieger zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Freia Hoffmann, Jane Bowers und Ruth Heckmann. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg, S. 181-197.

Homfeldt, Hans Günther (Hg.) (1999). „Sozialer Brennpunkt“ Körper. Körpertheoretische und –praktische Grundlgen für die Soziale Arbeit. (= Grundlagen der Sozialen Arbeit 2). Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren.

Honegger, Claudia (1991). Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt, New York: Campus (2. Aufl.).

Institut für Sozialforschung Frankfurt (Hg.) (1994). Geschlechterverhältnisse und Politik. Frankfurt: Suhrkamp.

Lyotard, Jean-François (1986). Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hrsg. v. Peter Engelmann. Graz: Böhlau.

Köhler, Armin (1989). „Individuum und Kollektiv. Interview mit Vinko Globokar.“ In: Positionen 2, H. 3, S. 12-15.

Meyer-Denkmann, Gertrud (1990). „Performance-Art – Versuch einer Orientierung.“ In: Musik und Körper. Hrsg. v. Werner Pütz. (= Musikpädagogische Forschung 11). Essen: blaue Eule, S. 166-178.

Minière, Claude (1976). „Un entretien avec vinko globokar. Une explication dramatique avec wagner.“ In : Musique en Jeu 4, H. 23, S. 61-71.

Löw, Martina (1999). „Einheitsphantasmen und zerstückelte Leiber. Offene und geschlossene Körpervorstellungen.“ In: Homfeldt 1999, S. 62-70.

Posselt, Gerald (2003): Performativität. http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=4 ,Version vom 06.10.2003, Stand vom 23.06.2004.

Rieger, Eva (1990). Frau und Musik. Kassel: Furore.

Seedorf, Thomas (1996): „Improvisation. 18. und 19. Jahrhundert.” In: Musik in Geschichte und Gegenwart 2. Sachteil, Bd. 4. Hrsg. v. Ludwig Finscher. Kassel: Bärenreiter, Sp. 569-584.

Stuckenschmidt, Hans Heinz (1981). Neue Musik. Frankfurt: Suhrkamp.

Tibbe, Monika (1995). „Über die Vertreibung der Sinnlichkeit aus dem Paradies der Ästhetik.“ In: Musik und Unterricht 6., H. 32., S. 11-15.

Wobbe, Theresa / Lindemann, Gesa (Hg.) (1994). Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht. Frankfurt: Suhrkamp.

Zeilmann, Achim / Stefanowski, Michael (2001). „Fleisch“ von Flatz. http://www.zdf.de/
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, Version vom 20.07.2001, Letzter Zugriff: 17.06.2004.

 

 

Tonträger

 

Vinko Globokar (1992). „Cri des Alpes.” Auf: Globokar by Globokar. Harmonia Mundi, HMC 905214.

Michael Riessler (1992). „Voix instrumentalisée” Auf: Vinko Globokar. Koch-Schwann-Aulos, 3-1063-2.

 

Sabine.Beck@musik.uni-giessen.de